Maximale Eskalation in der Silvesternacht – worauf es nun wirklich ankommt

Für eine Beschreibung der Silvesterereignisse in Berlin und andernorts benötigt man Superlative. Sie machen fassungslos, nicht nur wegen der ausufernden Gewalt, der vielen Verletzten und der immensen Sachschäden, die in dieser Nacht angerichtet worden sind. Besonders abstoßend und unerträglich ist der Umstand, dass die Täter ihre Angriffe gezielt gegen Menschen richteten, die bei der Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten arbeiteten. Menschen, die ihre Berufe ergriffen haben, weil sie anderen helfen wollen. Menschen, die bereit sind, dafür ihre eigene Gesundheit und zuweilen ihr eigenes Leben zu riskieren.

Die Angreifer haben mit ihren gezielten Attacken nicht nur Strafgesetze, sondern auch ein gesellschaftliches Tabu gebrochen. Widerwärtig. Die Bilder dieser Nacht und insbesondere einige der Angriffe, wie das Ausrauben eines Feuerwehrwagens, das Locken in Hinterhalte oder der gezielte Beschuss mit Feuerwerk, werden uns lange im Gedächtnis bleiben. Aus eigener Erfahrung: Den Angegriffenen bleiben solche Einsätze ein Leben lang im Gedächtnis. Dieser allemal.

Zur Wahrheit gehört, dass zwar das Ausmaß der exzessiven Gewalt schockieren muss, vom Himmel gefallen ist sie jedoch nicht. Erinnern wir uns: Schon vor drei Jahren gab es in der Berliner Silvesternacht gezielte Angriffe auf Polizei und Rettungskräfte. Die Berliner Feuerwehr musste damals schon zu über 600 Brandeinsätzen ausrücken – in einer Nacht. Im Mai 2020 setzten etwa 50 Täter im hessischen Dietzenbach einen Bagger und Mülltonnen in  Brand, um die Einsatzkräfte bei deren Eintreffen mit Steinen zu attackieren. Ein Hinterhalt. In der Nacht vom 30. auf den 31. Mai 2020 wurden in Stuttgart Polizeibeamte mit Steinen und Flaschen beworfen. In der Folge kam es dort in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 2020 zu massivsten Ausschreitungen, an denen 400 – 500 Personen beteiligt gewesen sein sollen. Es kam zu Plünderungen in der Innenstadt. Polizeibeamte wurden mit Pfosten, Eisenstangen, Pflastersteinen und Flaschen beworfen. Rettungskräfte wurden angegriffen. Ein Video zeigte einen 16-Jährigen dabei, wie er seinem am Boden liegenden Opfer gegen den Kopf trat.

Haben wir all diese Ereignisse und die mit Ihnen verbunden öffentlichen Diskussionen schon vergessen, oder glaubten wir, es habe sich um singuläre Ereignisse gehandelt? Das ist mitnichten der Fall. Gewaltforscher beschreiben schon seit Jahren, dass verschiedene Teile unserer Gesellschaft staatlichen Institutionen mit großer Distanz gegenüberstehen und den Sinn für das Gemeinwohl verloren haben – sofern sie ihn je hatten. Die Blaulichtorganisationen (Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste…) repräsentieren diesen Staat, mit dem sie nicht viel am Hut haben wollen. Sie sind zu Feindbildern geworden.

Der Mensch in der Uniform wird von den Tätern nicht gesehen. Es sind – aus ihrer Sicht – lediglich die Dienstleister des Staates, die angegriffen werden. Es kommt zu einer Gewalteskalation, die Erlebnischarakter bekommt und einen Adrenalinkick auslöst. Gruppendynamik fördert die Gewaltspirale. Die Täter inszenieren Ihre Aggressionen geradezu und wissen sich dabei reichlich unterstützt: Vor Ort von Umstehenden, die die Gewaltexzesse filmisch festhalten und ins Netz stellen. Dort wiederum scheinen zahllose Klicks zusätzliche Bestätigung zu bringen.

Um es klar zu sagen: Die Blaulichtorganisationen betreiben bei diesen Ereignissen lediglich  Symptombekämpfung. Das ist ihnen, insbesondere den Feuerwehr- und Rettungskräften, in solchen Nächten kaum mehr zuzumuten. Für das Bearbeiten der strukturellen, gesellschaftlichen Probleme und die Ursachenbekämpfung tragen nicht sie, sondern wir die Verantwortung: die Politik.

Ich will daher möglichst konkret Stellung beziehen. Wir müssen uns zumuten, die vielen verschiedenen Problemschichten anzugehen, ohne die eine gegen die andere auszuspielen. Nur so kann Kriminalpolitik funktionieren. Sie muss gesellschaftliche Zusammenhänge und Ursachen für Kriminalität begreifen, eine gute Prävention und Repression organisieren, sich im schlimmsten Fall gut um Opfer kümmern und vor allem muss sie eines: nach vorn schauen.

Ich greife exemplarisch fünf bedeutsame Felder heraus:

1. Was geht eigentlich im Kopf dieser jungen Leute vor? Was ist da schief gelaufen? Wie ist es genau zu diesen Feindbildern gekommen? Warum sind gesellschaftliche rote Linien bei Ihnen nicht vorhanden? Welche Stereotype über Polizei, Rettungskräfte und staatliche Institutionen sind bei ihnen vorhanden?

Die Gewalt- und Konfliktforscher sagen uns, dass sie dazu bislang zu wenig wissen. Also müssen wir diese Untersuchungen schnellstmöglich in Gang setzen. Ohne dieses grundlegende Wissen, stochern alle politischen Entscheidungsträger im Nebel oder bewegen sich im Bereich des Populismus. Um diese und andere wichtige Erkenntnisse für kriminalpolitische Entscheidungen mittelfristig besser zu organisieren, werden wir eine unabhängige Bundesakademie gründen. Damit bilden wir auf Bundesebene einen Knotenpunkt für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen und schaffen einen Ort des Austausches. Der Transfer in die Praxis und die Prävention von Gewalt und Radikalisierung kann hierdurch besser geplant werden. Durch vernetzte und verbundene Forschung können Phänomene gesellschaftlicher Spaltung analysiert und Präventionsmöglichkeiten entwickelt werden. Letztlich liefert solche Forschung die Grundlage für evidenzbasierte (kriminal-)politische Entscheidungen und für polizeiliche Einsatzkonzeptionen. Zudem kann dort die Weiterbildung im Bereich Konfliktmanagement sowie Gewaltprävention und -intervention gestärkt werden.

2. Spielt ein Migrationshintergrund eine Rolle?

In Berlin richtet sich der Verdacht vornehmlich gegen junge Männer und männliche Jugendliche. Augenzeugen und Medienvertreter ergänzen die Beschreibung um einen „Migrationshintergrund“. Da keiner von denen ein Stammbuch der Täter in die Finger bekommen haben dürfte, kann sich das zunächst nur auf eine äußerliche Beschreibung und ggf. sprachliche Akzente bezogen haben. Nach den Stuttgarter Gewaltexzessen wurde diese Frage untersucht. Von 100 ermittelten Tatverdächtigen hatten 83 einen Migrationshintergrund nach Definition des Statistischen Bundesamtes (Sie selbst oder mindestens ein Elternteil besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt). Die Wahrscheinlichkeit eines vergleichbar hohen Anteils bei den Berliner Taten ist hoch. Und nun? Was machen wir mit der Erkenntnis? Ist das also die Ursache für die Gewalt? Gewaltforscher Prof. Andreas Zick sagt: Nein. Dafür gäbe es keine Erkenntnisse. Die Herkunft erkläre nicht die Gewalt und diese Diskussion führe in die Irre. Psychologe Ahmad Mansour, bekannt für schonungslose Analysen, meint, es handele sich um kein migrantisches Problem, sondern ein Jugendproblem.

Mir scheint es wertvoll zu sein, zudem auf folgende Zusammenhänge hinzuweisen: 44 Prozent der Menschen in Stuttgart haben einen Migrationshintergrund. Bei den Jugendlichen ist es jeder zweite. In Stuttgart leben Menschen aus 185 Nationen. Viele dieser „Menschen mit Migrationshintergrund“ sind deutsche Staatsbürger. In Berlin liegt der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund bei 36,6 Prozent. Das sind 1,4 Millionen Berlinerinnen und Berliner, für die ich zunächst einmal sage: gut, dass sie da sind. Der Anteil innerhalb der Bezirke ist sehr unterschiedlich. In Berlin-Neukölln, einem der Stadtteile, in dem die Randale so eskalierte, hat etwa jeder zweite Einwohner einen Migrationshintergrund. Bei den Jugendlichen dürften es noch mehr sein. Was mich vor diesem Hintergrund am meisten an dieser Debatte stört sind die Zwischentöne, die verschiedene Kategorien von Jugendlichen suggerieren wollen. Es sind hingegen allesamt UNSERE Jugendlichen und jungen Männer, die hier aus dem Ruder laufen. Es ist daher auch unsere Verantwortung, uns um die Probleme zu kümmern. Wir entledigen uns des Problems nicht dadurch, dass wir gedanklich einen Teil der Gesellschaft abspalten und ihm den virtuellen Stempel „mit Migrationshintergrund“ verpassen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Gerade weil sie untrennbarer Teil des Gemeinwesens sind, müssen wir unmissverständlich den Anspruch vermitteln, dass wir nach gemeinsamen Normen und Werten leben und kein Raum für abweichende ist. Diesen Anspruch muss der Rechtsstaat bei  Gesetzesverstößen auch mit Härte vermitteln. Daran mangelt es zuweilen sehr.

3. Sollte das Strafrecht verschärft werden?

Rufe nach Strafverschärfungen sind Unsinn. Die mehrfachen Verschärfungen der in diesen Fällen einschlägigen Strafnormen haben erkennbar nicht dazu beigetragen, Übergriffe auf Polizei oder Rettungsdienste zu verhindern. Das war auch bereits vorher klar. Diese Delikte geschehen innerhalb gruppendynamischer Abläufe im Affekt. Nicht selten spielen legale und illegale Drogen eine Rolle. In diesen Konstellationen – anders als zum Beispiel bei der Bekämpfung professioneller Kriminalität – wirkt Strafrecht kaum präventiv. Hinzu kommt, dass vor einer möglichen Verurteilung die Entdeckung und der Tatnachweis stehen. In Tumultsituationen ist das hingegen eine enorme Herausforderung. Ich hoffe, dass die Ermittlungen in Berlin erfolgreich verlaufen. Das Strafrecht bietet den Richterinnen und Richtern ein ausreichend breites Sanktionsrepertoire; übrigens auch das Jugendstrafrecht.

4. Böllerverbot, Waffen- und Sprengstoffrecht

Ein sogenanntes Böllerverbot löst die o. g. Gewaltprobleme nicht. Andererseits gibt es aber auch keine überzeugenden Argumente, die für eine Beibehaltung der freien Verfügbarkeit und des de facto unkontrollierten Gebrauchs von Sprengstoff sprechen. Wir sollten uns das bewusst machen: Feuerwerkskörper beinhalten Sprengstoff. Alles spricht gegen ein „weiter so“. Die Verletzungen, die Belastungen von Rettungskräften und Notfallambulanzen, die Auswirkungen auf diejenigen, die aus Kriegsgebieten zu uns geflohen sind, die Umweltschäden einschließlich der Belastungen für Tiere, die Brände und die Kosten für die Gemeinschaft stehen in keinem Verhältnis zu dem vermeintlichen Freiheitsgewinn. Frei und gefahrlos bewegt man sich derzeit in einer Silvesternacht nicht durch die Straßen deutscher Großstädte. Ich gebe zu: Ich bin ein gebranntes Kind. Als Jugendlicher explodierte ein Knaller wenige Zentimeter neben meinem Kopf, weil ihn von der gegenüberliegenden Straßenseite jemand absichtlich herübergeworfen hatte. Meine Sympathie hält sich daher in Grenzen.

Die Beschränkung auf Zonen, in denen ein Feuerwerk veranstaltet werden kann, erscheint mir der sinnvollste Vorschlag, wie wir damit in Zukunft umgehen sollten. Idealerweise werden die Feuerwerke in diesen Zonen von den Kommunen selbst verantwortet.

5. Einsatzkonzeptionen

Die Einsatzkonzeptionen der Länderpolizeien müssen im Vorfeld immer auch mögliche Gruppendynamiken berücksichtigen und gemeinsam mit Kommunen, Feuerwehr und Rettungsdiensten, Raum– und Lichtkonzepte entwickeln. Raumkonzepte bedeutet, dass bestimmte Areale im Vorfeld abgesperrt werden müssen. Das muss einhergehen mit Rettungswegen. Zudem braucht man Anlaufstellen für Opfer oder Pressevertreter. Der Einsatz von zusätzlicher Sicherheitstechnik wie Body- oder Dashcams ist sinnvoll, reicht allein aber nicht aus. Es hat sich in Köln als klug erwiesen, Gewaltforscher in diese Konzepte einzubeziehen. Sie sind auf dem Gebiet die Präventionsprofis.

Das alles bedingt jedoch, dass es im Vorfeld eine gute Lageanalyse und eine dem angepasste Anzahl an Einsatzkräften gibt.

 

Bild: WDR/dpa/Julius-Christian Schreiner